Dienstag, 14. Juli 2009

Irgendwo in seinem Kopf muss er einen Engel haben



Meine Mutter Luisa wurde am 11. Mai 1940 in Lissabon, im Stadtteil Santa Engrácia geboren.
Dies mag zwar weltpolitisch nicht gerade sehr bewegend gewesen sein, aber für mich persönlich ist die Geburt meiner Mutter natürlich insofern wichtig, als das ich sicherlich heute nicht hier sitzen würde, und diese Zeilen schreiben würde, wenn sie damals nicht in Lissabon das Licht der Welt erblickt hätte.

Nur wenige Kilometer Fluglinie vom Geburtsort meiner Mutter, fast zur gleichen Stunde, ereignete sich an diesem selben Tag, für einen Mann und seine Familie, sehr wohl ein persönliches weltbewegendes Ereignis.

Der jüdische Maler Marc Chagall, der als Moishe Segal 1887 im weißrussischen Witebsk geboren worden war, und nun als Marc Chagall die französische Staatsbürgerschaft besaß, war auf der Flucht vor den Nazis, mit seiner Ehefrau Bella und seiner Tochter, am späten Nachmittag, aus Madrid mit dem Zug kommend, sicher in Lissabon angekommen.
Die Flucht des „entarteten Künstlers“ Chagall war endlich vorbei. Er konnte aufatmen!

Hier in Lissabon sollte er für ein ganzes Jahr verweilen. Denn die USA taten es sich schwer, ihm ein Einreisevisum auszustellen.
Dann, 1941, bekam er endlich das lang ersehnte Einreisevisum, dank einer Einladung des New Yorker Museums of Modern Art.
Er und seine Familie durften am 07. Mai 1941, per Schiff, nach Amerika ausreisen.

Das eine Jahr, welches Marc Chagall in Lissabon verbringen musste, sollte sich als einer der unproduktivsten seiner künstlerischen Laufbahn erweisen.
Nicht das Chagall es sich so gewünscht hätte.
Im Gegenteil!
Marc Chagall war der Typ von Künstler, der jeden Tag, jede Stunde ein außergewöhnliches Kunstwerk produzieren konnte und wollte.
Pablo Picasso sagte einmal über ihn:

„Wenn Chagall malt, weiß man nicht, ob er dabei schläft oder wach ist. Irgendwo in seinem Kopf muss er einen Engel haben.“

Nein, es war alleine die portugiesische Emigrationspolitik, die Chagall zum Nichtstun verdammte.
Den Flüchtlingen war es nämlich generell im neutralen Portugal verboten, sich, auf welche Art und Weise auch immer, beruflich oder künstlerisch zu betätigen!

Und so kommt es, dass es von Marc Chagall, der die wunderschönsten Gemälde malte, die einzigartigsten Kirchenfenster kreierte und die traumhaftesten Bühnenbilder entwarf, heute in ganz Portugal, dem Land das ihn und seine Familie vor den sicheren Tod im Konzentrationslager rettete, kein einziges Kunstwerk gibt.

So erfolgreich die Neutralitätspolitik der portugiesischen Regierung damals für das Überleben der hunderttausenden unbekannter und bekannter Juden, Politiker, Schriftsteller und Künstler auch war;
so verheerend war sie im künstlerischen Sinne.

Damals, in den Jahren zwischen 1933 und 1945 durchliefen an die 300.000 Flüchtlinge das neutrale Portugal, um nach Amerika, Canada oder Südamerika zu fliehen.
Aber nur wenige von ihnen hinterließen ein Werk ihres künstlerischen Schaffens in Portugal zurück!

Maler wie Marc Chagall, Max Baumann und Max Ernst, Philosophen wie die deutsche Hannah Arendt, Schriftsteller wie Franz Werfel, Leon Feuchtwanger, Golo Mann, Nelly Mann, Heinrich Mann, Antoine de Saint Exupéry („Der kleine Prinz“), Alfred Döblin und Erich Maria Remarque („Eine Nacht in Lissabon“), Komponisten wie Darius Milhaud und Bela Bartok, Filmemacher wie Jean Renoir und Alexander Korda, Schauspieler wie Tyrone Power, Robert Montgommery, Josephine Baker, Charles Boyer, Simone Simon, Michèle Morgan, Maurice Chevalier, Madeleine Carrol und Jean Gabin mussten ihre Freiheit mit „Nichtstun“ bezahlen.

Für sie alle hat es sich gelohnt, denn sie überlebten das Naziregime und die Konzentrationslager.
Für die portugiesische Kunst aber, ging leider ein unermesslicher Schatz in Form von künstlerischem Schaffens verloren!

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