Dienstag, 20. Juli 2010
Dispensário de Alcântara
Von meinem Büro aus habe ich Sicht auf ein altes, ockerfarbenes Gebäude, mit einer riesigen Eingangstür und großen, hohen Fenstern, aus dem Ende des 19. Jahrhunderts.
Dieses Gebäude hat zweifellos seine besten Jahre schon hinter sich, und das es heute überhaupt noch steht, und noch nicht einem modernen Büro- oder Wohnhauskomplex weichen musste, ist eher einem Zufall der Geschichte als einer gewollten Altstadtplanung zu verdanken.
An der Avenida Infante Santo, Ecke Rua Tenente Valadim, genau gegenüber dem Büro in dem ich arbeite, auf der anderen Straßenseite, steht der 1893 erbaute Dispensário de Alcântara, damals noch Dispensário Real de Alcântara, wobei „Real“ für „königlich“ steht.
Ein „dispensário“ kann man als eine „ärztliche Beratungsstelle“ übersetzen oder „Ärztehaus“.
In diesem Fall war der dispensário „ein Erste-Hilfe-Posten für Bedürftige und Arme“, vor allem für Kinder bis 12 Jahre.
An dem Platz, an dem heute dieses Gebäude steht, stand vorher schon ein anderes, in dem Kinder ärztlich untersucht und behandelt wurden.
Hier bekamen sie jeden Tag frische Milch zu trinken, frisches Obst und eine warme Mahlzeit zu essen.
Und hier wurden sie auch auf die Wichtigkeit von Hygiene und Sauberkeit unterwiesen.
Die größte Unterstützerin des Dispensário Real de Alcântara, und die Verantwortliche für den Bau der heute noch steht, war die damalige Königin Amélia von Orleans und Bragança (port.: Amélia de Orleães e Bragança), Ehefrau von König Carlos I.
Königin Amélia, eine gebürtige Französin, setzte sich mit viel persönlichem und finanziellem Engagement, auch gegen den Willen vieler republikanischer und anderer politischer Widersacher, für diese von Dominikanerschwestern geführte und vom Oberarzt Dr. Augusto da Silva Carvalho geleitete Anlaufstelle für arme, verwahrloste und zum Teil misshandelte Kinder, ein.
Die Königin und ihre beste Freundin, Mariana, Condessa de Sabugosa (dt.: Mariana, Gräfin von Sabugosa), die auch gleichzeitig eine ihrer Hofdamen war, verbrachten viel ihrer Freizeit im dispensário bei der Pflege der vielen Kinder die sich tagtäglich auf den Weg nach Alcântara machten um dort behandelt zu werden.
Die Königin stattete dem dispensário, sehr zum Missfallen ihres Mannes, mehrmals in der Woche einen Besuch ab.
Ein altes Kachelgemälde (port.: Painel de Azulejos), das früher an der Veranda des dispensários angebracht war, und welches heute im Lissabonner Apothekermuseum zu sehen ist, zeigt die Königin bei einem dieser Besuche.
Nach dem Attentat auf König Carlos I im Jahre 1908, den Königin Amélia nur knapp überlebte, und nach dem Sturz der Monarchie im Jahre 1910, waren auch die Tage des dispensários gezählt.
Nach dem Ersten Weltkrieg musste der Dispensário de Alcântara, aus Geldmangel, seine Tore schließen.
Das das Gebäude heute noch steht, ist wie schon gesagt, ein glücklicher Zufall der Geschichte.
Denn in einer Stadt, in der normalerweise wenig zimperlich mit alten Stadtpalästen, Bürgerhäusern, Kirchen und anderen alten Bauwerken umgegangen wird, ist es schon fast ein Wunder das dieses alte Gebäude noch steht.
Altes abreißen und Neues bauen, das ist hier in Portugal leider noch immer die traurige Normalität.
Und wenn dann Stadtarchitekten ihre modernen Bausünden aus Glas und Beton in eine Reihe stellen wollen, wie den Barock oder die Gotik, dann ist das für mich so, als ob einer versucht mir eine Käsestulle als vollwertiges Mittagessens darzustellen.
Ich hoffe, ich werde noch lange, von meinem Bürofenster aus, den alten, prachtvollen dispensário sehen können!
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