Mittwoch, 25. April 2012
„O tesouro“ – „Der Schatz“
Vor vielen Jahren, zurzeit als dein Vater zur Schule ging, lebte in einem sehr fernen Land ein Volk unglücklich und einsam, gebeugt unter der Last einer mysteriösen Traurigkeit.
Der Himmel war hoch und blau, die Felder fruchtbar, das Meer und die Flüsse waren voller Fische und Leben, die Städte warm und hell, aber die Menschen, die vorüber kamen, blickten sich mit traurigen Augen an, schnell laufend und zwischen den Häusern entschwindend; und wenn sie einander in den Cafés, in Ämtern, auf der Straße trafen, sprachen sie flach, so als ob etwas, ein schreckliches Geheimnis sie ängstigen würde.
Wer aus anderen Ländern in das „Land der traurigen Leute“ kam, verstand es nicht. Die Menschen waren gut und liebevoll und hatten augenscheinlich nur Motive, um glücklich zu sein.
Aber wenn man ihnen Fragen stellte, entfernten sie sich und antworteten nicht, oder sie wechselten behutsam um Entschuldigung bittend das Thema.
Manchmal jedoch blieben die Besucher länger und schlossen schnell Freundschaften, weil es sehr leicht war, in diesem Land Freunde zu bekommen. Diese Freunde nahmen sie dann mit in ihre Häuser, und nachdem sie ihre Türen gut verriegelt und alle Fenster geschlossen hatten, enthüllten sie das Geheimnis ihrer Traurigkeit.
So erzählten sie, dass das Volk dieses Landes einst einen mächtigen und schönen Schatz besessen hatte, der ihm gestohlen wurde und dass es ein großer und wertvoller Schatz war, ohne den man nicht leben kann.
„Einen Schatz?“, fragten die Besucher befremdet.
„Ja einen Schatz...die Freiheit.“
„Die Freiheit? Ein Schatz?“
Die Besucher wollten es nicht glauben, da in ihren Ländern die Freiheit eine allgemeine Sache war - fast ohne Bedeutung. Allen Leuten stand es frei, zu machen, was sie wollen, so lange sie keinem etwas Schreckliches taten. Und das war so normal, dass die Menschen die Freiheit nicht bemerkten. Sie waren frei auf dieselbe Weise wie sie atmeten, und niemand stellte in Rechnung, dass sie atmeten. Sie atmeten und fertig.
„Ja, die Freiheit ist wie die Luft, die wir atmen“, sagten ihnen ihre Freunde traurig. „Nur wenn sie uns fehlt, ersticken wir voller Verzweiflung und wir entdeckten, dass wir ohne die Freiheit nicht leben können.“
„Wie kann irgendjemand ohne die Freiheit leben? Wie ist das möglich?“
Also erklärten sie es ihnen: Dort in diesem Land können die Menschen weder sagen, was sie wollen, was sie denken oder fühlen noch können sie weggehen und andere Länder besuchen, andere Völker kennen lernen; sie leben also eingeschlossen in ihrem Land, als wäre es ein Gefängnis. Nicht einmal verraten könnten sie jemandem dieses Geheimnis, weil sie gefangen oder sogar getötet werden könnten.
„Das muss wohl ein großes Unglück sein.“, sagten die Besucher.
„Es ist nicht verwunderlich, dass ihr immer so traurig seid?“
Nachdem sie erneut die Türen kontrolliert hatten, um zu sehen, ob jemand draußen sei, der sie bespitzelte, verrieten ihre Freunde ihnen, wie das Leben jeden Tag im „Land der traurigen Leute“ war. Es gab Polizisten für alle Bereiche. Keine guten Polizisten, die den Verkehr regeln und Diebe festnehmen, sondern Polizisten, um ihnen nachzuspionieren, um zu verhindern, dass sie miteinander reden, Polizisten an den Grenzen, um sie nicht rausgehen zu lassen, sogar Polizisten , die ihre Briefe öffnen und ihre Gespräche abhören, um aufzuspüren, was sie gesagt und gedacht haben, und sie verfolgen und verprügeln, wenn sie weder sagen noch denken, was man will, das sie sagen oder denken sollen.
Die Jugendlichen des „Landes der traurigen Leute“ durften weder Musik hören und Filme sehen, noch Bücher und Zeitungen lesen, die ihnen gefielen, sondern nur die Musik, die Filme und Bücher, die ihnen nicht verboten wurden. Nicht einmal Coca Cola konnten sie trinken, weil Coca Cola, niemand weiß warum, auch verboten war. Die Jungen und Mädchen durften sich weder unterhalten noch gegenseitig einladen, mussten in separate Schulen gehen und getrennt durch Mauern und Gitter spielen.
Die Mädchen durften keine Hosen anziehen. Ihnen war es auch verboten, ohne Strümpfe zu laufen. Und die Jungen, wenn sie heranwuchsen, wurden in schreckliche Kriege in weit entfernten Ländern befehligt und gezwungen, fremde Völker abzuschlachten, die ihnen nie etwas Schlechtes angetan hatten; und viele von ihnen starben dort oder kehrten irrsinnig und verkrüppelt zurück.
„Aber warum habt ihr nicht in der Regierung abgestimmt, dass all diese Dinge beendet werden und dass man euch eure Freiheit, euren Schatz zurückgibt?“, wunderten sich die Besucher. „Weil wir auch nicht wählen dürfen!“ Es war erschreckend. „Ihr dürft nicht wählen? Also, wie habt ihr eure Regierenden ausgesucht?“
„Aber wir haben unsere Regierenden gar nicht ausgesucht...“
„Nun, wer hat sie gewählt?“
„Niemand weiß es...“
Wer diese Dinge, die sehr besorgt machten, hörte, dessen Herz füllte sich jäh mit Trauer und Hoffnungslosigkeit. Die Sonne schien ihm schon nicht mehr so warm, der Himmel nicht mehr so durchsichtig und blau; und als er auf die Straße zurückkehrte, sah er sich ängstlich um, daran denkend, dass er überwacht und verfolgt werden könnte, befürchtend, dass jemand seine Gedanken lesen und aus dem Schatten heraustreten könnte, um ihn dafür zu bestrafen.
Nach der Rückkehr in sein Land verstand er wohl, was für ein kostbarer Schatz seine Freiheit schließlich war und wenn er es verließ, behandelte er sie wie eine Kostbarkeit von der sein Glück und sein eigenes Leben abhingen, sich viele Male an seine Freunde erinnernd, die allein und unglücklich im „Land der traurigen Leute“ zurückgeblieben waren.
Bis es eines Tages im „Land der traurigen Leute“ dazu kam, dass sich die Menschen entschlossen, ihren Schatz zurückzuerobern. Die Soldaten sammelten sich in ihren Kasernen und nahmen ihre Waffen, um am Ende den Schatz den Händen der Diebe zu entreißen. Alle Menschen gingen in freudiger Erregung auf die Straße und begleiteten die Soldaten singend und rufend: „Es lebe die Freiheit! Es lebe die Freiheit! “
Die Jungen kamen aus dem Krieg, glücklich, wieder von Freunden umgeben zu sein und schlossen ihre Eltern und Geschwister in die Arme. Die Jungen und Mädchen konnten sich zum ersten Mal die Hände reichen und sich betrachten, Seite an Seite einherschreiten ohne Angst vor Anklagen und Strafen. Das ganze Land drehte sich lärmend und überschwänglich in einem großen Fest, die Menschen ließen allen Worten und allen Gefühlen freien Lauf, die sich so lange während der unglücklichen Jahre angesammelt hatten.
Es war der 25. April. Und weil an diesem Tag jenes Volk den Schatz der Freiheit zurückerlangte, heißt dieser Tag für immer „Tag der Freiheit“.
Das alles geschah vor langer Zeit, du warst noch nicht geboren, in einem weit entfernten Land.
Dieses Land heißt jetzt nicht mehr „Land der traurigen Leute“. Es heißt Portugal und ist Dein Land. Der Schatz gehört jetzt Dir und Du bist es, der für ihn Sorge tragen muss, tief in Deinem Herzen behüten, damit ihn niemand wieder stielt.
Deshalb ist diese keine erfundene Geschichte. Es ist eine wahre Geschichte, die wirklich stattgefunden hat.
Frage Deine Eltern oder Lehrer und sie werden Dir mehr Dinge über das „Land der traurigen Leute“ erzählen und über die Freiheit.
(Manuel António Pina)
Manuel António Pina ist ein portugiesischer Schriftsteller, Kinderautor und Journalist, der regelmäßig in hiesigen Zeitungen und Zeitschriften publiziert und dessen Werke in mehreren Sprachen übersetzt wurden, auch ins Deutsche.
Pina schrieb das Kinderbuch „O tesouro“ (dt.: „Der Schatz“) im Jahre 1993 ursprünglich für seinen elfjährigen Enkelsohn, um diesem die portugiesische Nelkenrevolution vom 25. April 1974 zu erklären.
Manuel António Pina ist Träger des „Prémio Camões“, dem wichtigsten Literaturpreis Portugals. Der obere Text wurde von "Andorinha" übersetzt.
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